Täglicher Sprung ins kalte Wasser

Artikel über den Arbeitsalltag eines Dolmetschers und Übersetzers

Artikel vom 1. Dezember 2007
aus der Welt Online, von Kirsten Niemann

Dolmetscher leisten geistige Schwerstarbeit. Sie brauchen ein gutes Sprachgefühl, fundiertes Allgemeinwissen und ein hervorragendes Erinnerungsvermögen

Ein paar Tage zuvor übersetzte er eine Ansprache von Joschka Fischer an der Freien Universität Berlin ins Englische. Eine leichte Übung. An den Ex-Außenminister ist der Konferenzdolmetscher Wolfgang Schulz gewöhnt. Erst kürzlich hat er ihn im Gespräch mit Robert Redford gesehen. Und früher, als Fischer noch im Amt war, sowieso öfter. Die Arbeit fällt leichter, wenn man den Redner kennt. Heute arbeitet Schulz im Berliner Abgeordnetenhaus, für eine Veranstaltung der Grünen über ökologische Marktwirtschaft. Am Nachmittag wird eine Rednerin aus Kalifornien erwartet. Wenn sie das Podium betritt, wird Wolfgang Schulz unsichtbar. Er wird in die abgedunkelte, schalldichte Kabine verschwinden, sich den Kopfhörer überstülpen und den Vortrag der Expertin ins Deutsche übertragen.

Dabei wird er Ruhe bewahren, selbst wenn sich die Rednerin in ihren eigenen Sätzen verhaspelt, wenn sie Silben und ganze Worte verschluckt. "Die wenigsten Fachleute können sich gut ausdrücken", sagt der Dolmetscher. Sein Job ist es, auch aus drei Halbsätzen etwas Verständliches zu machen. Vor allem die Deutsche Sprache ist unter Simultandolmetschern berüchtigt: Bei langen Schachtelsätzen und nachgestellten Verben sollte der Dolmetscher schon zu Beginn des Satzes wissen, wo er mal endet. "Den Wackelpudding an die Wand nageln", - so beschreibt der 48-jährige Kölner mit Zweitwohnsitz in Berlin sein tägliches Brot.

Doch Schulz kennt sich aus in der Welt der Umweltzertifikate, tonnageabhängigen Schwerverkehrsabgaben und Kläranlagen. "Es ist unabdingbar, sich Fachwissen anzueignen", sagt Schulz, der nicht nur Politiker dolmetscht, sondern auch über Umweltschutz Bescheid weiß und für medizinische Kongresse gebucht wird. Das Fachwissen muss der Dolmetscher selber immer wieder auf den neusten Stand bringen: entsprechende Literatur und Artikel lesen, neue Fachausdrücke in den Wortschatz aufnehmen. Sie übersetzen nicht nur die gesprochenen Worte stumpf nach Vorschrift, sie übertragen auch den richtigen Sinn des Gesprochenen, auch der Tonfall schwingt mit. Doch die eigene Person tritt völlig zurück hinter dem Übersetzten. "Ich bin eine Leitung, sonst nichts" - das sagte einmal Bill Hopkins, ein langjähriger Russisch-Dolmetscher der US-Regierung.

Schulz ist einer von etwa 6000 Dolmetschern in Deutschland. Er arbeitet als Konferenzdolmetscher für die Regierung, für die Wirtschaft, für Verbände, Stiftungen und auf Kongressen.

Schulz ist ein untypischer Vertreter seines Berufsstands. 90 Prozent seiner Kollegen sind weiblich. Die meisten verbringen nach der Schule ein Jahr als Au pair im Ausland, danach folgt ein Sprachstudium. Ein zweisprachiges Elternhaus ist eine optimale Voraussetzung für den Beruf. Schulz hat weder Spanisch noch Englisch mit der Muttermilch aufgenommen. Er glich das Defizit mit längeren Auslandsaufenthalten aus und studierte ein Jahr in Newcastle und London, ein weiteres in Madrid.

Schulz schulte sein Sprachgefühl beim Radiohören. "Nights in White Satin" von den Moody Blues, "Hey Joe" von Jimi Hendrix - schon als Junge hörte er Songtexte und schrieb sie mit. Nach dem Abitur macht er zunächst eine Journalistenausbildung. Erst mit 26 Jahren schreibt er sich für den Studiengang als Dolmetscher an der FH Köln ein. Nach dem Diplom macht er sich selbstständig - und hat Erfolg.

Etwa 700 bis 1000 Euro kann ein Simultandolmetscher als Tagessatz verlangen. Der Dolmetscher - ein super bezahlter Traumberuf? Schulz grinst und nennt die Nachteile. "Die Recherchen zahlt der Kunde nicht. Es gibt keine Sicherheit, aber viel Stress." Einer Untersuchung der WHO zufolge steht der Dolmetscher tatsächlich an dritter Stelle der Liste anstrengender Berufe - gleich hinter dem Jetpiloten und dem Astronauten. Jeder Arbeitstag ist ein Sprung ins kalte Wasser. Berufssprechen unter Anspannung. Etwa 80 bis 120 Einsätze jährlich schafft man in diesem Job.

"Ein Dolmetscher muss ein außergewöhnliches Allgemeinwissen und ein Erinnerungsvermögen wie ein Elefant haben", sagt Johann J. Amkreutz, Präsident des Bundesverbands Deutscher Übersetzer. Amkreutz prägte einmal diesen Satz: Der Dolmetscher trägt sein Wörterbuch im Kopf, der Übersetzer unterm Arm.

Ein Konferenzdolmetscher beherrscht die Kunst, Dinge sehr schnell zu erfassen. Schon beim Sprechen konzentriert er sich auf das, was noch kommt. Er ist ein Meister der geteilten Aufmerksamkeit. Beim Simultandolmetschen arbeiten immer zwei Dolmetscher in der Kabine, alle 30 Minuten wechseln sie sich ab. Im Gegensatz zum Simultandolmetscher übersetzt der Konsekutivdolmetscher Abschnitt für Abschnitt und notiert das Gesprochene zunächst in Kurzschrift.

Ob für den Staatsbesuch, in einer Fernsehsendung oder bei einem Kongress: Konferenzdolmetscher arbeiten weitestgehend zeitgleich. Das unterscheidet sie vom Übersetzer. Die meisten Dolmetscher und Übersetzer sind Freiberufler. Noch in den 60er-Jahren waren 80 Prozent der Übersetzer und Dolmetscher fest angestellt, heute verhält es sich nach Schätzungen des Bundesverbands der Dolmetscher und Übersetzer e.V. (BDÜ) genau umgekehrt. Weder die Berufsbezeichnung des Übersetzers noch die des Dolmetschers ist geschützt. Es gibt keinen vorgeschriebenen Ausbildungsweg. Neben den Diplomstudiengängen an den Universitäten gibt es auch Fachhochschulen, deren Ausbildung mit einem Bachelor oder Master abschließt. An den Unis lernen die Studenten zwar die Sprache und Dolmetschtechniken, aber nicht, wie sie eine Existenz gründen, Kunden akquirieren und auf dem Markt als Einzelkämpfer bestehen. Der BDÜ-Präsident empfiehlt das Netzwerken. Der Bedarf wächst. Gebucht werden häufig Dolmetscher, die viele Sprachen anbieten können. Viele gehen daher Partnerschaften mit anderen frei arbeitenden Kollegen ein. Der Beruf birgt Unsicherheit, Stress und Risiken. Dennoch ist er beliebt. "Es wird nie langweilig", sagt Schulz. "Wir sind flexibel und arbeiteten immer wieder an neuen Themen."